Selbst mit der Erfahrung von Jahrzehnten hielt man zuletzt den Atem an. Innerhalb weniger Wochen hat der Anleihemarkt eine neue Welt gepreist, wenig überraschend, was die Richtung betrifft, aber in jeder Hinsicht historisch von der Dimension. Die hartnäckige Inflation aufgrund der Geopolitik und der Knappheit an Gütern und Arbeitskräften und der Schwenk der Notenbanken führten zu massiven Anstiegen der Anleiherenditen über alle Laufzeiten und Marktsegmente hinweg. Die Angst vor weiter steigenden Zinsen führte beispielsweise dazu, dass EURO-Investmentgrade-Unternehmensanleihen wieder Renditen bringen, die wir zuletzt 2012 gesehen haben. Somit wurde ein Jahrzehnt an Tiefzinsphase in wenigen Wochen ausgelöscht. Die aktuellen Niveaus sind bemerkenswert, da die Bilanzen von Banken speziell und Unternehmen generell besser gebaut sind als im Jahr 2012, im Umfeld der EURO-Sorgen.
Gleichzeitig geht am Aktienmarkt die Angst vor einer Rezession um, die Gewinnerwartungen sinken, die KGVs auf Basis der erwarteten Gewinne sind zuletzt deutlich zurückgekommen. Viele sogenannte Digitalisierungsgewinner haben massive Kurseinbrüche gesehen und stehen teilweise unter den Niveaus von vor Corona, was auch bemerkenswert ist.
Angst wohin man schaut, aber muss nicht eine Angst zu viel sein? Ist es wirklich realistisch, dass die Wirtschaft in die Rezession geht und dies nichts an der Inflationsthematik und den Lieferkettenproblemen ändert? Die aktuelle Markterwartung sagt, dass der US-Leitzins in 12 Monaten bei etwa 3,50 % liegen wird. Die Aktien sind teilweise im Bärenmarkt, alle Konjunkturfrühindikatoren kühlen sich rasant ab. Wird es wirklich so viele Zinsschritte brauchen oder erledigt sich das „von selbst“?
An der Börse in Wien kommt mit der Komplexheit der Geopolitik eine weitere Angst dazu: Die Anhängigkeit von russischem Gas. Als Börsianer kann man auch nicht die Zukunft vorhersehen, vor allem nicht jene der Geopolitik. Man kann nur den Ist-Zustand bewerten. Viele Unternehmen zeigen ausgezeichnete Managementqualität und verfügen über überzeugende Mehrjahrespläne: AT&S, Mayr-Melnhof, Lenzing, Andritz, Wienerberger oder Pierer Mobility seien hier nur als Beispiel angeführt. Die im Index hoch gewichteten Bank- und Versicherungsaktien werden mittelfristig zudem von der Zinswende profitieren.
In die Bewertung fließen aber aktuell nur die „bad news“ ein. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis auf Basis der erwarteten Unternehmensgewinne für die kommenden 12 Monate liegt aktuell bei nur mehr 8 und damit deutlich unter dem europäischen und globalen Schnitt.
Der Taktiker weiß, dass die Kurse von heute und morgen rein von der globalen Meldungslage geschrieben werden. Der Stratege weiß aber, dass die Kurse in den kommenden Quartalen und Jahren von den Geschäftsmodellen getragen werden. Der Stratege findet daher aktuell sehr viele attraktive Einstiegskurse und gibt sich der Illusion des perfekten Timings ohnehin nicht hin.
Börsenradio-Interview mit Alois Wögerbauer
Autor:
Alois Wögerbauer, CIIA
Geschäftsführer der 3 Banken-Generali Investment-Gesellschaft m.b.H.
27. Juni 2022
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