Der ATX beendete den Monat September mit einem Kursrückgang von 7,1 %. Das ist leider nichts Außergewöhnliches, denn rückblickend muss man feststellen, dass die Monate Juni und Februar in diesem Jahr eine noch schlechtere Performance zu Buche stehen hatten. Seit Jahresbeginn hat der österreichische Leitindex mehr als 30 % seiner Kapitalisierung verloren, beim Stoxx Europe 600 beträgt das Minus knapp über 20 %, die Stimmung befindet sich auf einem Tiefpunkt. Die Rezessionsangst greift um sich, die Wahrscheinlichkeit, dass Deutschland in den kommenden zwölf Monaten in eine Rezession abrutscht, liegt laut Analystenschätzungen derzeit bei knapp 80 %. Zum Konjunkturabschwung kommt die hohe Inflation, die zum globalen Phänomen geworden ist, und die nun von den Notenbanken mit allen Mitteln bekämpft wird, koste es, was es wolle. Zu den Zinsängsten kommen die Risiken einer Ausweitung von Putins Krieg gegen die Ukraine bzw. weiterer geopolitischer Verwerfungen. Aktuell gibt es also wenig bis gar nichts, was für Aktien spricht, außer vielleicht die Bewertung?
Wir blicken auf das KGV (Kurs-Gewinn-Verhältnis) des ATX, das seit Monaten von einem Tiefstand zum nächsten fällt und mit Ende September nun einen Wert von 5,6x erreicht hat, was nicht einmal der Hälfte des Durchschnitts der letzten zehn Jahre entspricht (dieser liegt derzeit bei 13,1x). Der Verweis, dass einige stark gewichtete Unternehmen des ATX von den gestiegenen Energiepreise profitieren und daher heuer außergewöhnlich hohe Gewinne aufweisen werden, die das KGV drücken, ist prinzipiell richtig. Jedoch sollte der ATX nach Analystenschätzungen auch in den kommenden Jahren im Stande sein, ähnlich hohe Gewinne zu generieren, auf Basis derer sich derzeit KGVs von 6,2x errechnen lassen; dies gilt sowohl für 2023 als auch für 2024. Das KGV des Stoxx Europe 600 beträgt im Übrigen aktuell 10,8x, das ist ebenfalls der niedrigste Wert der letzten zehn Jahre.
Die Gewinnrendite des österreichische Leitindex beläuft sich mittlerweile auf 17,8 %, das sind 15 Prozentpunkte mehr als die Rendite 10-jähiger Staatsanleihen. Diese „Risikoprämie“ von 15 Prozentpunkten ist ebenfalls ein Rekordwert und offenbart die massive Verunsicherung bezüglich des wirtschaftlichen Ausblicks und geopolitischer Spannungen. Angesichts dieser außerordentlich hohen Risikoprämie wäre man fast dazu geneigt zu behaupten, es wäre bereits alles eingepreist. Doch dem ist offensichtlich nicht so, was ein Blick auf die technische Analyse zeigt: von Bodenbildung noch keine Spur.
Wir wagen einen vagen Blick in die Zukunft. Die Inflation dürfte nun endlich ihren Höhepunkt erreicht haben und in den nächsten Monaten etwas zurückgehen. Vieles hängt von der Entwicklung der Energiepreise ab, die als Haupttreiber der Inflation in Europa gelten. Dass die Inflation in Europa stark angebotsgetrieben („cost push“) ist, sollte eher positiv gesehen werden, denn ein Sinken der Energiepreise sollte sich auch in einem Rückgang der Inflation bemerkbar machen. Wie rasch die Kerninflation (Inflation bereinigt um Energie- und Nahrungsmittelpreise) allerdings auf ein Absinken der Energiepreise reagieren wird, ist ungewiss und stellt damit nach wie vor einen Risikofaktor für den Inflationsausblick dar. Was die Konjunkturaussichten angeht, so sollte die zunehmende Visibilität helfen, den Schmerz zu bewältigen, Wachstumseinbußen bzw. Rezession mit inbegriffen. Wir malen daher (zumindest mittel- bis langfristig) ein vorsichtig positives Bild. „Dum spiro spero“ – „Solange ich atme, hoffe ich“ (Cicero).
Autor:
Christoph Schultes, MBA, CIIA
Chief Equity Analyst Austria
Erste Group Bank AG
4. Oktober 2022
Hinweis
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